Der Aufstieg von Pen&Paper wurde schon viel besungen: Längst ist es kein Nischen-Hobby mehr, wie noch vor zehn Jahren. Inzwischen sind vor allem die großen Systeme (allen voran natürlich Dungeons & Dragons) wichtiger Teil der modernen Popkultur. Viele, viele Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft setzen sich zusammen an den Spieltisch und erzählen gemeinsam Geschichten, getragen von ihrer Vorstellungskraft und Kreativität.
Besonders beliebt ist Pen&Paper auch unter queeren Menschen. Für einige stellt das Hobby einen sicheren Hafen in einer schwierig zu navigierenden Welt dar – denn es bietet Freiheiten, die zum Beispiel die meisten Videospiele nur schwer gewähren können. Darüber habe ich mit Andrea Rick von Plotbunny Games gesprochen, einem deutschen Ein-Personen-Verlag für Indie-Pen&Papers.
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Was ist Plotbunny Games? Ein Berliner Verlag für Pen&Paper-Rollenspiele und Erzählspiele – also zum Beispiel auch Systeme, die ohne Würfel auskommen, weil man stattdessen Ereigniskarten zieht. Plotbunny Games setzt sich besonders für Inklusion, Repräsentation und Zugänglichkeit ein. Die meisten Projekte werden über Crowdfunding finanziert.
Die fast unendlichen Freiheiten von Pen&Paper
»Warum fasziniert das Hobby gerade viele queere Menschen so sehr?«, will ich von Andrea wissen. Sie erklärt, dass es ihrer Meinung nach vor allem eine willkommene, sichere Zuflucht bietet, in der man sich unverbindlich ausprobieren kann – besonders auch, aber natürlich nicht nur bei queeren Themen.
»Wir erstellen uns selbst die Regeln der Welt. Und damit können wir natürlich einen Ort schaffen, den wir im echten Leben vielleicht nicht so vorfinden«, sagt sie. Zum Beispiel können Spielgruppen festlegen, dass sie in ihrem Abenteuer nicht mit Themen wie Homophobie, Transfeindlichkeit, Sexismus, Ableismus oder Rassismus konfrontiert werden wollen. Andrea fügt hinzu: »Dem begegnen wir ja leider schon im Alltag genug, beim Spielen will ich doch abschalten und mich entspannen!«.
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Ready to Roll: Die erste Folge unserer Pen & Paper-Kampagne - Krach im Museum
Auch das Thema der »Gefundenen Familie« ist in vielen Rollenspielen wichtig. Eine Abenteuergruppe wächst nach und nach zusammen, trotz aller Unterschiede, und bewältigt die größten Herausforderungen gemeinsam.
»Diese Found Family ist für viele queere Menschen auch Teil der selbst erlebten Realität, manche von uns sind dazu gezwungen, sich eine neue Familie zu suchen, wenn die ursprüngliche uns nicht akzeptiert."
Ein dritter wichtiger Punkt: Naturgemäß spielt man in Tabletop-Rollenspielen ja eine Rolle. Die Spielfigur sieht vielleicht ganz anders aus, hat andere Fähigkeiten, eine völlig andere Vergangenheit und so weiter. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch mal in eine andere Gender-Rolle zu schlüpfen, vielleicht zu experimentieren, wie es sich anfühlt, mit anderen Pronomen angesprochen zu werden. Und zwar ohne gleich in der »echten Welt« entsprechende Schritte gehen zu müssen. Andrea erzählt mir von ihr bekannten trans Personen, die so ihre wahre Identität herausgearbeitet haben.
Viele große Pen&Paper-Systeme sind schon viele Jahre verhältnismäßig inklusiv, zum Beispiel sind in Dungeons & Dragons sowie Das Schwarze Auge Männer und Frauen in fast allen Kulturen gleichberechtigt, biologische Unterschiede spielen regeltechnisch keine Rolle. In DSA ist es außerdem problemlos möglich, sich Charaktere mit Behinderungen zu erstellen, egal ob körperlicher oder geistiger Natur.
Abseits davon gibt es natürlich auch viele Systeme, die ausdrücklich Inklusion und/oder queere Identitäten in den Mittelpunkt stellen. Viele davon stammen aus der englischsprachigen Indie-Szene, wie mir Andrea erklärt, aber es gibt auch ein paar mit deutscher Übersetzung.
Rollenspielsysteme, die Vielfalt ganz besonders feiern
Die folgende Auswahl ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt, aber ein guter Startpunkt, wenn ihr Lust auf bunte Spielsysteme habt. Dass die nicht nur von queeren Menschen gespielt werden können, ist natürlich völlig selbstverständlich – es sind einfach gute Spiele, die sich eben bestimmten Themen widmen.
Viva la QueerBar: Erzählspiel von Plotbunny Games, in dem es um eine Bar geht, die in alle möglichen Settings eingebaut werden kann. Fantasy- oder Mittelalter-Taverne, Cyberpunk-Club, Western-Saloon … Eine Session dauert zwischen 2 und 4 Stunden, also nur einen Nachmittag. Auf Deutsch und Englisch verfügbar.
Lichcraft: Bitterböse sarkastisches Rollenspiel über die Zustände im britischen Gesundheitssystem. Ihr spielt Figuren, die 300 Jahre lang auf einen Termin in der Gender Identity Clinic warten müssen. Also wollen sie zu Liches werden, um diesen Termin noch zu erleben – und müssen dazu erstmal den nötigen Ritualkram sammeln. Auf Englisch verfügbar.
Our Traveling Home: Vom Ghibli-Film »Das Wandelnde Schloss« inspiriert. Eine bunte Gruppe Ausgestoßener schließt sich zur Found Family zusammen und am Ende geht die Geschichte immer gut aus. Auf Englisch verfügbar.
Monsterhearts: Rollenspiel über Teenager, die in Wahrheit Monster sind und versuchen, ihren komplizierten Alltag zu meistern. High-School-Dramen, Geheimnisse und Liebesbeziehungen natürlich inklusive! Auf Deutsch und Englisch verfügbar.
Fräulein Bernburgs Pensionat für junge Damen: Ebenfalls von Plotbunny Games. Hier erlebt ihr Dramen und auf Wunsch Romanzen in einem Mädcheninternat der 1950er. Muss nicht queer gestaltet werden, aber bietet eine wunderbare Vorlage dafür.
Charmante Schwertlesben: Der Titel ist Programm, in diesem Rollenspiel geht’s um lesbische Personen mit völlig unterschiedlichen Hintergründen, die Abenteuer bestehen. Jeder Archetyp bringt einen eigenen inneren Konflikt mit, der neben der Hauptgeschichte gelöst werden will. Das System basiert auf Powered by the Apocalypse, wie etwa auch Avatar: Legends.
Damit sich alle Beteiligten (völlig egal in welchem Spielsystem) immer wohlfühlen, empfiehlt Andrea sogenannte »Safety Tools«. Also Hilfsmittel, die verhindern sollen, dass es überhaupt erst zu unangenehmen Situationen kommt. Was von manchen vorschnell als unnötig abgetan wird, erfüllt besonders bei Runden mit Fremden einen wichtigen Zweck. Und erhöht oft sogar den Spielspaß!
Wie Sicherheits-Tools für mehr Spaß sorgen, statt ihn zu verderben
Natürlich muss nicht jede Spielrunde diese Hilfsmittel verwenden. Wenn ihr euch alle schon seit vielen Jahren kennt, dann braucht ihr das vielleicht gar nicht, weil ihr ohnehin die persönlichen Grenzen eurer Gruppenmitglieder respektiert. Aber in Zeiten von schnell wechselnden (Online-)Runden ist es eben nicht immer möglich, nur mit guten Bekannten zu spielen.
Was genau sind solche Sicherheits-Tools überhaupt? Klassiker, die auch Andrea verwendet, sind die Open-Door-Regel, X-Karten und »Grenzen und Schleier«, ich erklär sie mal kurz.
- Open Door: Heißt, alle dürfen den Spieltisch jederzeit verlassen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.
- X-Karten: Wer dieses Hilfsmittel berührt (oder in die Kamera hält), ruft damit eine sofortige Pause des Spiels aus. Zum Beispiel, weil ein unangenehmes Thema aufkommt.
- Schleier und Grenzen: Englisch »Lines and Veils« Vor dem Start des Abenteuers legt die Spielgruppe fest, welche Themen sie nicht oder nur im Vorbeigehen behandeln wollen. Linie bedeutet dabei ein absolutes No-Go, das auch nicht erwähnt wird; Schleier sind Dinge, die passieren dürfen, ohne genau beschrieben zu werden. Hilfreich etwa bei Trigger-Themen, vorhandenen Phobien und so weiter.
Manche Pen&Paper-Fans rollen da schon reflexartig mit den Augen und denken, dass das automatisch zu einem konfliktfreien, weichgespülten Spiel führt – woran natürlich nichts verkehrt ist, wenn alle Beteiligten sich genau das wünschen. Aber der Gedanke ist sowieso falsch, wie Andrea erklärt. Im Gegenteil ermöglichen Sicherheits-Tools oft sogar besonders intensive Geschichten.
»Als Spielleitung kann ich dann auch mal richtig loslegen, wirklich gruselige oder dramatische Details einbauen, weil ich ja sicher weiß, dass es für alle Beteiligten okay ist«. Ohne vorherige klare Absprachen halten sich Spielanleitungen möglicherweise stärker zurück, um niemanden zu verletzen. Aber wenn die Grenzen festgelegt sind, ist ja auch der Spielraum bis zu diesen Grenzen hin klar umrissen.
Außerdem sehr wichtig: So lässt sich auch sicher zwischen gespielten und echten Emotionen unterscheiden. Wenn jemand zum Beispiel frustriert über eine Situation zetert, aber die Spielerin oder der Spieler keine X-Karte hebt, bedeutet das: Alles cool, ich bin gerade einfach nur tief in meiner Rolle.
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Was ist Pen&Paper? Unser Experte klärt die Grundlagen
Pen&Paper steht allen offen. Zahlreiche, völlig verschiedene Systeme bieten genau das Erlebnis, das eine individuelle Spielgruppe sich wünscht. Und auch bestehende Rollenspiele lassen sich natürlich ganz nach Belieben mittels Hausregeln umschreiben oder um neue Geschichten erweitern – gerade diese fast unendliche Freiheit macht Tabletop-Rollenspiel ja überhaupt erst zu dem wundervollen Hobby, das wir so lieben.
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Im Rahmen unserer Tabletop-Themenwoche richten wir das Scheinwerferlicht auf alles rund um Pen&Paper, Brettspiele und Co. Natürlich geht es auch um die großen, bekannten Spiele wie Dungeons & Dragons - aber viele von euch hatten sich ausdrücklich gewünscht, dass wir auch abseits davon spannende Themen und Spielsysteme aufstöbern.