Der dreckige Kampf um Aeon Must Die! geht in die nächste Runde

Zwölf Entwickler litten monatelang unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Nun kämpfen sie um Wiedergutmachung, ihre berufliche Existenz — und um ihr Herzensprojekt Aeon Must Die!.

Für das neue Spiel Aeon Must Die! gingen die Entwickler durch die Hölle - doch jetzt stehen sie vor existenziellen Aus. Die ganze Skandalgeschichte lest ihr bei GameStar Plus - wir haben mit den Beteiligten gesprochen. Für das neue Spiel Aeon Must Die! gingen die Entwickler durch die Hölle - doch jetzt stehen sie vor existenziellen Aus. Die ganze Skandalgeschichte lest ihr bei GameStar Plus - wir haben mit den Beteiligten gesprochen.

21 Minuten nach Beginn von Sonys State of Play 2020 nahm eine Tragödie ihren Lauf, von der die Hunderttausenden Zuschauer zu diesem Zeitpunkt noch nichts ahnen konnten: Mit beeindruckenden Cyberpunk-Ruinen, wummernden Elektro-Klängen und wuchtigen Nahkämpfen debütierte der neonfarbene Brawler Aeon Must Die!, der unter all den anderen Spielen aufzufallen vermochte. Ein Hingucker, der in Erinnerung bleiben würde.

Für das kleine Entwicklerteam Limestone Entertainment aus Estland sollte die Enthüllung ihres Spiel auf der riesigen Weltbühne eigentlich ein Moment des Triumphes sein - stattdessen aber flossen in der Hauptstadt Tallinn Tränen der Verbitterung, Verzweiflung und Angst. »Es war, als wäre ein Strick um meinen Hals gelegt worden, der sich jetzt langsam zuzog.«

Mit diesen Worten beschreibt die Projektmanagerin Evgenia Russyian den Moment, als sie mit den anderen Entwicklern von Limestone Entertainment das Debüt ihres Spiels mitansehen mussten, das eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen. Es war die Schlussszene einer Tragödie, die vor drei Jahren ihren Anfang genommen hatte und sich um Missbrauch, Mobbing und ein streikendes Entwicklerteam drehte, das so nicht mehr weitermachen wollte.

GameStar hat mit den betroffenen Entwicklern gesprochen, um diese Geschichte in Gänze nachzeichnen zu können, die die Gesundheit und berufliche Existenz von einem Dutzend Menschen in Gefahr gebracht hat.

GameStar konnte für diese Reportage mit dem Studiogründer, Aleksei Nehoroshkin, sowie einigen anderen Ex-Mitarbeitern von Limestone Entertainment ausführlich sprechen. Weder der Publisher Focus Home Interactive noch die Geschäftsführung des estländischen Studios reagierten bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels auf unsere Interview-Anfragen. Der Artikel kann somit nur die Perspektive der Ex-Mitarbeiter beleuchten, unterstützt von den öffentlich einsehbaren Text- und Tondokumenten.

Mobbing, Belästigung und Urlaubsverbote

22. Juni 2020, eineinhalb Monate vor Sonys State of Play: Zwölf Mitarbeiter von Limestone Entertainment schicken unter der Führung des Studiogründers Aleksei Nehoroshkin eine Mail an ihren französischen Publisher Focus Home Interactive. In der Betreffzeile steht einfach nur: »Help«

Es ist in der Tat ein Hilferuf, mit dem die Gruppe auf die furchtbaren Umstände aufmerksam machen will, unter denen sie während der Arbeit an Aeon Must Die! leiden mussten. Insgesamt 35 teils schwere Vorwürfe gegen die Geschäftsleitung von Limestone Entertainment listen sie auf: von ausbleibenden Gehaltszahlungen über erzwungene Überstunden bis hin zu Mobbing und inkompetenter Teamführung.

»Das Management macht es uns absichtlich und gezielt unmöglich, ein Produkt anzufertigen, das auf dem Markt überleben kann. Die Geschäftsführung hindert uns zweifellos daran, mit dem Spiel eine Qualitätsstufe zu erreichen, die den Investitionen eines Publishers angemessen ist«, heißt es dort.

Ein Ausschnitt der Mail an Focus Home Entertainment, in der die zwölf Entwickler den französischen Publisher auf die Missstände in ihrem Studio aufmerksam machen. (Bild: Aleksei Nehoroshkin) Ein Ausschnitt der Mail an Focus Home Entertainment, in der die zwölf Entwickler den französischen Publisher auf die Missstände in ihrem Studio aufmerksam machen. (Bild: Aleksei Nehoroshkin)

Die ersten Anzeichen, dass die Chefetage und Investoren von Limestone Entertainment kaum Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen ihrer Angestellten nahmen, machten sich bereits im August 2019 bemerkbar. Zu diesem Zeitpunkt war Aeon Must! rund eineinhalb Jahre in Entwicklung.

Das Management wollte allmählich Ergebnisse sehen und erhöhte den Druck auf das Team, wie sich die damalige Projektleiterin Evgenia Russyian im Interview mit GameStar erinnert: »Ich und ein weiterer Projektmanager wurden von der Geschäftsleitung auf Deadlines festgenagelt, die wir unmöglich schaffen konnten. Das sagten wir ihnen, woraufhin uns erläutert wurde, dass wir die Angestellten stärker einspannen und manipulieren sollten, um dieses Ziel zu erreichen.«

Aeon Must Die! dreht sich um futuristische Action-Kämpfe zwischen Dämonen, Superkriegern und Cyberpunk-Monstern - ein besonderer Look, der auf der State of Play auffiel. Aeon Must Die! dreht sich um futuristische Action-Kämpfe zwischen Dämonen, Superkriegern und Cyberpunk-Monstern - ein besonderer Look, der auf der State of Play auffiel.

Die Arbeitsstunden stiegen, erste Gehaltszahlungen blieben aus fadenscheinigen Gründen aus und Evgenia selbst wurde zum Opfer von körperlichen und emotionalen Misshandlungen durch die Geschäftsführung, wie sie GameStar offenbart: »Ich habe quasi alles erlebt: Burnout, unbezahlte Überstunden, Mobbing, sexuelle Belästigung. Mir wurden Pausen verboten und Kranktage von meiner Urlaubszeit abgezogen. Nach einigen Monaten sah ich so mitgenommen aus, dass mich meine Kollegen morgens fragten, ob alles in Ordnung sei.«

Aeon Must Die! - Screenshots ansehen

Im März 2020 kündigte Evgenia schließlich den Job bei Limestone Entertainment, für den sie ursprünglich aus ihrer Heimatstadt Tartu nach Tallinn gezogen war. Eigentlich wollte sie noch länger durchhalten, weil sie sich als Schutzschild für andere Mitglieder im Team verstand. Sie wollte ihre Kollegen, die mittlerweile zu ihren Freunden geworden waren, vor Schlimmerem schützen - aber ihre Gesundheit spielte schließlich einfach nicht mehr mit.

An ihrem letzten Arbeitstag traf sie sich mit ihren besten Freunden aus dem Team im Stadtpark der Hauptstadt zum Abschieds-Picknick. Schnell wurde in der Runde klar: Jeder von ihnen war ebenso unglücklich und kaputt geschuftet wie Evgenia. Auch sie wollten Limestone Entertainment verlassen.

In Aeon Must Die! sollen Fahrzeugsequenzen die Action auflockern. In Aeon Must Die! sollen Fahrzeugsequenzen die Action auflockern.

Fehlende Gehälter und psychischer Druck

Selbst weit über die estnischen Grenzen des Limestone-Hauptquartiers hinaus bekamen Mitarbeiter die Rücksichtslosigkeit der Geschäftsführung zu spüren. Im Januar 2020 heuerte Fedor Podgurskyi bei Limestone Entertainment an, um hauptverantwortlich das Kampfsystem von »Aeon Must Die« zu verfeinern und zu verbessern. Eigentlich sollte er dafür von St. Petersburg nach Tallinn ziehen, doch die Geschäftsführung versäumte es immer wieder, ein Visum für den Mitarbeiter zu beantragen:

Irgendwann haben sie einfach aufgegeben, weil der Release immer näher rückte und sie ihre Zeit nicht mehr damit verschwenden wollten, mich nach Estland zu bekommen.

Doch die Versäumnisse des Managements reichen noch tiefer: Vier Monate lang wurde Fedor Podgurskyi von Limestone Entertainment das Gehalt verweigert. Jede seiner Nachrichten und Anrufe beim CEO Yaroslav lysenko blieb unbeantwortet. Stattdessen sprang der der Studiogründer Aleksei Nehoroshkin, der zu diesem Zeitpunkt längst selbst über eine Kündigung nachdachte, in die Bresche und zahlte Fedors Lohn aus eigener Tasche.

Die Optik von Aeon Must Die! erzeugt mit Neonfarben und ungewöhnlicher Ästhetik für Aufmerksamkeit. Die Optik von Aeon Must Die! erzeugt mit Neonfarben und ungewöhnlicher Ästhetik für Aufmerksamkeit.

Dieser Stress und die schlechte Behandlung durch die Geschäftsführung hatte auch für Fedor spürbare psychische und körperliche Konsequenzen: Er litt regelmäßig unter Zitteranfällen, Panikattacken und trank täglich hochprozentigen Alkohol, um sich selbst zu beruhigen.

In Tallinn unterdessen entschloss sich die Gruppe, die sich zu Evgenias Abschied im Park getroffen hatte, die für sie einzig denkbare Konsequenz zu ziehen: Geschlossen kündigten sie in der gleichen Mail an Focus Home Interactive, in der sie auf die Arbeitsbedingungen im estländischen Büro aufmerksam machten, ihren Weggang von Limestone Entertainment an. Fedor Podgurskyi und sein Limestone-Kollege Arsen Shakhbabyan, der ebenfalls in St. Petersburg lebt und drei Monate lang überhaupt überhaupt kein Gehalt bekommen hatte, reichten einige Tage später ebenfalls die Kündigung ein.

Das Spiel setzt auf dicke Bossgegner, die schon mal fast den kompletten Bildschirm füllen. Das Spiel setzt auf dicke Bossgegner, die schon mal fast den kompletten Bildschirm füllen.

Ihr Herzensprojekt Aeon Must Die! wollten die insgesamt zwölf Entwickler aber nicht einfach so aufgeben: Im Abschluss ihrer Mail schlugen sie dem Publisher vor, mit einem neu gegründeten Studio die Arbeit an dem Spiel fortzusetzen.

Es war ein riskanter Schachzug, der den Publisher nun vor drei rechtlich denkbare Möglichkeiten stellte:

  1. Focus setzt die Zusammenarbeit mit dem Rest von Limestone Entertainment fort.
  2. Der Publisher lässt sich bereits getätigte Investitionen vom Entwicklerteam zurückzahlen und zieht sich aus dem Publisher-Vertrag zurück.
  3. Focus gibt die volle Verantwortung für die Lizenz von Aeon Must Die! an das neugegründete Entwicklerteam unter Aleksei Nehoroshkin weiter.

Die kleine Gruppe hoffte auf die letzte Option, wurde aber nach dem Abschicken ihrer Mail wochenlang vom Publisher hingehalten - so schildern es die ehemaligen Mitarbeiter von Limestone Entertainment. Statt den Entwicklern direkt zu antworten, schickten Mitarbeiter von Focus Home Interactive eine Kopie der Hilferuf-Mail an die Geschäftsführung von Limestone Entertainment. Die Fronten zwischen Ex-Entwicklern und Management waren spätestens jetzt unauflöslich verhärtet.

Arbeitslos und unsicher, wie es nun weitergehen soll, warteten die zwölf Entwickler auf eine Antwort von Focus. Und dann kam der Tag der State of Play.

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