The Quiet Man im Test - Haudrauf mit Handicap

Wenn Spiele unterrepräsentierten Gruppen Handlungsmacht geben, ist das eigentlich positiv. In The Quiet Man ist das allerdings eher gut gemeint als gut gemacht.

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The Quiet Man wagt ein stilistisches Experiment, scheitert als Spiel aber kläglich. The Quiet Man wagt ein stilistisches Experiment, scheitert als Spiel aber kläglich.

Hände hoch: Wer kennt noch Dragon's Lair? Phantasmagoria? Die Tex-Murphy-Reihe? Alle genannten Spiele haben eines gemeinsam: ihren starken Fokus auf animierte oder mit echten Schauspielern gedrehte Filmsequenzen, die Spieler durch die Geschehnisse führen und mal mehr, mal weniger Interaktivität zulassen.

Da vielen heutzutage das schnöde Stillsitzen und Zuschauen schwerfällt, sind Full-Motion-Video- oder FMV-Titel mittlerweile eher Relikte der grauen Vorzeit als Vorbilder für gutes Spieldesign. Umso überraschender, dass gerade ein großer Publisher wie Square Enix mit dem ambitionierten FMV-Prügelspiel-Hybrid The Quiet Man versucht, dem vernachlässigten Genre eine Herzdruckmassage zu verpassen.

Wie es sich für einen interaktiven Film gehört, ist die Geschichte hinter dem Actionspiel der Katalysator für das Gameplay. Ihr schlüpft in die Rolle von Dane, einem Kampfkunstexperten und Bodyguard, der für einen lokalen Gangsterboss namens Taye arbeitet und sich die Nächte in einer düsteren Noir-Version von New York City um die Ohren schlägt. Das Besondere an Dane: Seit seiner Geburt ist das drahtige Lederjackenmodel gehörlos und muss sich somit auf seine restlichen Sinne und Gebärdensprache verlassen, um mit seiner Umwelt zu interagieren.

Grafisch präsentiert sich der 3D-Prügler als Relikt aus dem vergangenen Jahrzehnt – auch aufgrund der mauen Mimik der Charaktere. Grafisch präsentiert sich der 3D-Prügler als Relikt aus dem vergangenen Jahrzehnt – auch aufgrund der mauen Mimik der Charaktere.

Ein Sammelbecken aus Klischees

Dieser Fakt zieht einen ganzen Rattenschwanz an Spieldesignentscheidungen nach sich, die so gut wie nie gut umgesetzt werden. Zu Beginn des Spiels müsst ihr zunächst knapp zehn Minuten mit echten Schauspielern gedrehtes Filmmaterial über euch ergehen lassen, ohne Möglichkeit vorzuspulen oder uninteressante Passagen zu überspringen. Bereits hier fällt auf, dass der Cast des interaktiven Films zu übertriebener Darstellung tendiert und vor allem klischeehafter nicht sein könnte.

Das fängt bei dem afroamerikanischen Nachtclubbesitzer an, führt über die weibliche Hauptrolle, die nur als Objekt und Projektionsfläche für weibliche Klischees fungiert und endet bei eurer Nemesis, einem maskierten Kidnapper. Wie genau die unterschiedlichen Figuren zusammenhängen, welche Motivationen diese verfolgen und warum die grenzdämlich benannte Sängerin Lala genau wie Danes verstorbene Mutter aussieht, müsst ihr euch selbst zusammenpuzzeln. Ohne sich Notizen zum Geschehen auf dem Bildschirm zu machen und das danach noch mal zu reflektieren, ist das aber kaum möglich.

Wer die Spielumgebung geschickt einsetzt, wird mit besonderen Kombo-Finishern belohnt. Wer die Spielumgebung geschickt einsetzt, wird mit besonderen Kombo-Finishern belohnt.

Denn die Gehörlosen-Mechanik zieht The Quiet Man gnadenlos durch: Bis auf vier oder fünf Zeilen Dialog hört ihr im gesamten Spiel nur gedämpfte Geräusche, egal, wo sich Protagonist Dane gerade befindet. Eine fragwürdige Entscheidung. Denn so bekommt ihr während des Spiels nicht das Gefühl, Dane selbst auf seiner Reise zu begleiten, sondern vielmehr ein gehörloser Zuschauer zu sein, der sich in den falschen Film verirrt hat - ein völlig unlogischer Bruch, der sich enorm negativ auf die Immersion auswirkt.

Gameplay aus der Steinzeit

Ein ähnliches Gefühl macht sich nach Ablauf der ersten, langatmigen Filmsequenz breit. Denn die ersten - und über weite Strecken einzigen - Gegnertypen, die ihr präsentiert bekommt, sind stereotype Abziehbilder von Mitgliedern einer Latinogang mit breitbeiniger Macho-Attitüde, die sich nur für Autos, Alkohol und Drogen interessieren. Ähnlich flach steht es um deren gameplaybezogene Charakteristika: Die Charaktermodelle und das Bewegungsrepertoire eurer Gegner weisen so viel Abwechslung auf wie das Sortiment eures Lieblingsbäckers kurz vor Ladenschluss.

Auch die Umgebungen, durch die ihr euch prügelt, sind lieblos zusammengestückelt und mit grob aufgelösten Texturen zugekleistert. Egal ob verlassene, mit Graffiti besprühte Gebäudekomplexe, schummrige Nachtclubs oder Dächer hoch über der Stadt: Die Szenerie bleibt immer austauschbar und lässt Atmosphäre nicht nur vermissen, sondern stellt sich dieser manchmal sogar in den Weg.

Im Fokus-Modus tritt und schlägt Dane besonders spektakulär um sich. Der Realitätsbezug leidet darunter allerdings deutlich. Im Fokus-Modus tritt und schlägt Dane besonders spektakulär um sich. Der Realitätsbezug leidet darunter allerdings deutlich.

Abseits vom optischen Aspekt schießen sich die Prügelpassagen ebenfalls relativ zuverlässig selbst ins Aus. Die plumpen Angriffe der KI gehen regelmäßig ins Leere während ihr euch problemlos durch Horden an gesichts- und motivationslosen Handlangern prügelt, und auch die teilweise einfallsreichen Finisher gehen in einer Woge aus langweiligen Endlos-Komboangriffen unter. Selbst die Bosskämpfe mutieren nach kurzer Zeit zum Quasi-Quicktime-Event, das euch zwischen Ausweichen und Kontern kaum Fingerfertigkeit abverlangt.

Film oder Spiel?

Immerhin haben die Entwickler die Steuerung einfach gehalten: Eine Taste für Faustschläge, eine Taste für Tritte, eine Taste um auszuweichen. Hinzu kommt ein Fokus-Modus, den ihr auslösen könnt, wenn ihr ein unsichtbares Angriffsmeter gefüllt habt und der besonders spektakuläre Angriffe zur Folge hat. Schade nur, dass die feste Kamera an den ungünstigsten Punkten aufgehangen ist und somit das Ausweichen in bestimmte Richtungen zu einem absoluten Glücksspiel macht.

In den CGI-Zwischensequenzen wird deutlich, wie sehr es sich The Quiet Man im Uncanny Valley gemütlich gemacht hat. In den CGI-Zwischensequenzen wird deutlich, wie sehr es sich The Quiet Man im Uncanny Valley gemütlich gemacht hat.

Selbst die prinzipiell positiven Aspekte der Massenschlägereien verblassen relativ schnell, wenn sich die einzige Gameplaykomponente derart steif, glitchverseucht und hoffnungslos veraltet präsentiert und zudem enorm wenig Raum im Vergleich zum Rest des interaktiven Films einnimmt. Denn obwohl ihr etwa zwei bis drei Stunden mit The Quiet Man beschäftigt sein werdet, kommen die Passagen, in denen ihr selbst die Rolle von Dane übernehmen dürft, zusammen auf nicht mal die Hälfte der Spielzeit.

Warum die Entwickler diesen Schwerpunkt gewählt haben, ist genauso fraglich wie der weitere Umgang mit der Geschichte von The Quiet Man. Am 8. November will Square Enix einen Patch veröffentlichen, der die komplette Story nach dem ersten Durchlauf noch mal mit Tonspur spielbar macht und alle offenen Fragen beantworten soll. Ob sich Spieler ernsthaft erneut durch die drögen Prügelpassagen und die hanebüchenen Filmsequenzen quälen oder das Genre doch lieber mit Erinnerungen an die glorreichen Zeiten der FMV-Klassiker zu Grabe tragen möchten, steht auf einem anderen Blatt.

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